Der Durchschnittskunde

Lufthansa hat sich bei der Argumentation im gerichtlichen Verfahren stets darauf berufen, daß die Meilenentwertung für den Durchschnittskunden keinen unangemessenen Nachteil darstellt – und konnte damit das OLG Köln wohl zunächst überzeugen. Doch bisher ist die Frage, was überhaupt ein Durchschnittskunde ist, vollkommen offen geblieben.

In einem anderen Verfahren gab Lufthansa mal an, dieser ominöse „Durchschnittskunde“ habe 12.600 Meilen – was sich schon rein rechnerisch nicht halten lässt.

Bei näherem Nachdenken ist auch sofort klar: Wer seine Kunden in vier Gruppen segmentiert, nämlich „Normale“, „Frequent Traveller“, „Senatoren“ und „HON Circle“-Mitglieder, der ist auch selbst gar nicht am Durchschnitt interessiert, sondern der möchte differenzieren.

Insofern kann es zunächst nur um ein durchschnittliches Mitglied einer der vier Gruppen gehen.

Man kann wohl sicherlich davon ausgehen, daß innerhalb der Gruppen die Meilenzahl normalverteilt ist, also mit dieser berühmten Gauß-Glocke darzustellen ist.

Ich habe vor einiger Zeit schon mal aufgrund der bekannten Daten abgeschätzt, wieviel Meilen im Durchschnistt ein Mitglied je nach Level haben müßte. Und kam zu diesen Ergebnissen:

Status Mittlere Meilenzahl Gesamt Anteil Gesamt
Nicht-Statuskunden 8.697 150.284.160.000 75%
FTL 34.788 18.159.336.000 9%
SEN 113.061 20.350.980.000 10%
HON 678.366 12.210.588.000 6%

Als Nebenbefund sind ca. 25% der Meilen bei 5% der Kunden.

Doch wie präzise kann dieser Durchschnitt überhaupt den Kontostand des durchschnittlichen Mitglieds eines Statuslevels beschreiben?

Grundsätzlich gilt, daß durch die Menge an Mitgliedern, 21 Millionen, sich Besonderheiten nivellieren sollten. Also das Konto desjenigen, der gerade einen Flug gebucht hat im Vergleich zu dem, der für die First-Class-Weltreise für die vierköpfige Familie anspart.

Wenn die Ausreißer, also die ungewöhnlichen Werte, selten sind, ist die Gaußkurve recht spitz, je mehr zum Rand drängen, desto breiter und flacher wird sie. Das heißt, desto weniger genau beschreibt ein Mittelwert wirklich eine große Gruppe. Diese „Breite“ lässt sich durch die Standardabweichung erkennen.

Standardnomalverteilung (Gauß-Kurve)

Standardnormalverteilung (Gauß-Kurve)

Die durchschnittliche Körpergröße der männlichen, deutschen Jugendlichen von 176,8 cm zum Beispiel hat eine Standardabweichung von 7,46 cm. Das bedeutet, daß 68,3% zwischen 169,3 cm und 184,3 cm (also: 176,8 +/- 7,46 cm) groß sind. Und für 95% gilt, daß sie zwischen 161,9 cm und 191,7 cm (176,8 +/- (2*7,46cm)) messen.

Das heißt, die Körpergrößen liegen recht dicht zusammen, die Kurve ist noch einigermaßen spitz. Würde die Standardabweichung z.B. 20 cm betragen, dann wären 95% zwischen 1,36 m und 2,16 m groß – eine erkennbar viel breitere Verteilung.

Damit könnte man viel schwerer zum Beispiel standardisierte Kleidergrößen anbieten, Autositze gestalten oder Schulbänke bauen. Nur weil die Größen so dicht zusammenliegen, die Standardabweichung klein ist, ist es möglich, Einheitsstühle anzubieten oder Türklinken in fester Höhe zu montieren.

Die Frage, die sich für die Meilen stellt, ist damit die Breite der Gauß-Glocke. Also die Standardabweichung.

Sähe die Kurve aus, wie die gelbe im Graphen unten, dann wäre der Durchschnitt ein recht präzises Maß, wäre sie aber wie die Blaue, ist der Durchschnitt nahezu aussagelos.

Mögliche Normalverteilung der Meilen

Mögliche Normalverteilung der Meilen

Die blaue Verteilung ist viel wahrscheinlicher, denn es gibt zum Beispiel „normale“ Mitglieder mit keiner Meile auf dem Konto, aber auch einige mit einigen Hunderttausend, mir sind sogar Multimillionäre bekannt – unter den Blue-Membern.

Es muß auch eine Menge an Blue-Membern geben, die ausreichend Meilen nach einigen Jahren zusammen haben, um sich einen Flug oder ein Upgrade leisten zu können.

Das können gar nicht so wenige sein, denn 60% der Meilen werden so eingelöst. Also muß die Streuung der Meilenkontostände schon unter den „Normalmitgliedern“ sehr groß sein.

Das spricht eher für die blaue Kurve – dort habe ich eine Standardabweichung von 10.000 Meilen angenommen, damit lägen 95% der „Normal“-Meilenkonten im Bereich zwischen 0 und 28.697 Meilen. Es mag jeder mal selbst abschätzen, ob das plausibel ist – oder die Abweichung noch größer ist. In meinem Umfeld hat eine (nicht signifikante) Stichprobe eine noch breitere Streuung suggeriert.

Um die Hypothese zu überprüfen, werde ich eine kleine Umfrage erstellen und heute abend oder morgen ins Netz stellen. Dann können Sie mir helfen, Lufthansas Argumentation zu testen.

Wenn die Kurve so breit ist wie die Blaue, bedeutet das, daß das „durchschnittliche“ Miles&More-Mitglied schon statistisch nicht leicht zu fassen ist – weil ein primitver Mittelwert einfach durch die Streuung viel zu ungenau wird und für Vergleichs- oder Argumentationszwecke ungeeignet ist.

Wenn aber der „durchschnittliche“ Meilenkontostand innerhalb eines Levels schon statistisch nicht präzise fassbar ist, dann ist er das erst recht nicht über die verschiedenen Level hinweg. Ganz im Gegenteil, da steigt die Ungenauigkeit weiter. So dürfte bei HON-Circle-Mitgliedern die Standardabweichung leicht in der Größenordnung von 100.000 Meilen liegen.

Mithin lässt sich der Durchschnitt für das Gericht auch nicht fassen. Man kann sich ihm bestenfalls von unten annähren und feststellen, er muß hoch genug sein, damit 60% der Meilen in Flugprämien verwandelt werden können.

Wenn aber 60% der Meilen verflogen werden, dann folgt, daß der „Durchschnitt“ der Meilennutzung verteuert worden ist – und damit wohl auch die Kunden mit „durchschnittlichem“ Einlöseverhalten, denn nur das kann mit „Durchschnittskunde“ gemeint sein, betroffen sind.

1. Runde für mich, 2. für LH?

Heute war die mündliche Verhandlung der Berufung am OLG Köln. Ich sitze nach einigen Interviews jetzt noch am Flughafen, und versuche jetzt mal einen ersten Eindruck für Sie zusammenzufassen.

Der Richter begann die Sitzung mit einer Darstellung seiner Rechtsauffassung, derzufolge das LG Köln in seinem Urteil zu sehr auf den Einzelfall abgestellt hätte, man aber den Durchschnitt aller Kunden betrachten müsse. Und den würde es eben weniger als mich treffen, wenn deren Konto entwertet würde.

AGB seien immer auf den durchschnittlichen Nutzer abzustellen und nicht auf meinen Einzelfall.

Das OLG war weiter der Ansicht, daß die Prämientabelle nicht Bestandteil der AGB sei und daher auch keiner Kontrolle unterläge. Insbesondere sei auch ein Widerspruch gegen eine Änderung nicht möglich, weil das in Punkt 4.4 der AGB nicht vorgesehen ist. Dort bezöge sich das Widerspruchsrecht nur auf die Teilnahmebedingungen, die Prämientabelle sei nicht explizit erwähnt.

Daher sah das Gericht zunächst gute Aussichten, daß Lufthansa die Berufung gewinnen könnte. Das Urteil gibt es allerdings erst am 8.1.2013, vorher dürfen wir uns auch nochmal schriftsätzlich äußern. Möglicherweise können wir damit das Gericht noch umstimmen.

Im Schriftsatz werden wir uns mit den neuen und aus unserer Sicht überraschenden Argumenten des Gerichts auseinandersetzen – und ich werde sie dann hier auch diskutieren, wenn mein Anwalt und ich die Zeit hatten, sie in Ruhe zu durchdenken. Jetzt ist es noch etwas „hektisch“.

Das Gericht hat angekündigt, wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zum BGH zulassen zu wollen. Damit ist wohl auch nach einer Entscheidung im Januar noch eine weitere Runde denkbar, die wir dann gegebenenfalls auch nutzen würden. Doch davor ist erstmal ein Urteil nötig.

Das OLG will eine Entscheidung am 08.01.2013 verkünden. Vermutlich wird das schon das Urteil sein, eventuell ergibt sich aber auch weiterer Verhandlungsbedarf am OLG.